16 D I E 4 - M I N U T E N -V O R L E S E G E S C H I C H T E Ein Mann, ein Turm VON SILKE VRY Silke Vry ist Archäologin und Kunsthistorikerin. Sie lebt als Autorin in Hamburg. Ihr neuestes Buch „Dusty Diggers. Die Geheimnisse der Himmelsscheibe von Nebra“ erscheint am 26. März (E. A. Seemann Henschel Verlagsgruppe). www.silkevry.com Ich will euch von einem Mann erzählen und von einem Turm. Von dem Mann habt ihr wahrscheinlich noch nie gehört, er hieß Johann und lebte vor langer Zeit, vor 200 Jahren. Den Turm aber kennt ihr alle. Es ist der Turm des Michel, und er steht heute noch dort, wo er damals schon stand, als Johann noch lebte, nämlich in Hamburg. Johann war ein kluger Mann. Deshalb wusste er viel, sehr viel! Eines Tages fragte ihn ein Junge: „Was weißt du alles?“ „Ich weiß, dass der Turm von Pisa schief ist.“ „Beweis es“, sagte der Junge. „Ich hab’s gesehen“, sagte Johann, „das ist Beweis genug!“ „Was weißt du noch?“, bohrte der Junge weiter. „Ich weiß, dass in der Wüste Sand ist.“ „Beweis es“, sagte der Junge erneut. „Ich hab’s gesehen. Das ist Beweis genug!“ „Und, was weißt du sonst noch?“ „Ich weiß, dass man sich nicht am Popo kratzt. Das gehört sich nämlich nicht. Und ich weiß, dass man sich die Hand gibt, wenn man einen Bekannten trifft.“ „Ja“, sagte der Junge, „aber nur, wenn man sich vorher nicht am Popo gekratzt hat“, und er fing furchtbar an zu lachen. Natürlich wusste Johann noch viel mehr. Aber ihm gefiel nicht, dass der Junge lachte, deshalb schwieg er. Dann fiel ihm etwas ein, etwas Großes und Wunderbares. Etwas, was den Jungen bestimmt ehrfürchtig werden ließe. Johann konnte es nur flüstern, so unglaublich war es: „Ich weiß, dass sich die Erde dreht.“ Tatsächlich wurde der Junge still, aber nur ganz kurz. Dann lachte er wieder und rannte los, immer im Kreis um Johann herum. „Die Erde dreht sich? Ich sehe nichts. Beweis es! Beweis, dass sich die Erde dreht!“ Und dann lief er davon. BEWEISEN! Wie ließ sich etwas so Unfassbares und Göttliches bewei- sen? Johann dachte nach, den ganzen Tag. Und auch am nächsten Tag dachte er nach und auch noch am Tag danach und danach. Dann fiel ihm beim Kaffeetrinken die Tasse vom Tisch. Zwar ging sie kaputt, doch Johann freute sich, denn ihm war eine Idee gekommen. Er lachte und konnte gar nicht wieder aufhören. Er lachte sogar noch, als er seinen Dachboden durchwühlte. Und er lachte auch noch, als er mit Holz und Säge hantierte. Als er fertig war, packte er seine Sachen, mietete eine Kutsche, sagte dem Kutscher: „Nach Hamburg, bitte.“ Und fünf Tage später, als die Türme Hamburgs in Sicht kamen, sagte der Kutscher: „Bald sind wir da, mein Herr.“ AUSGABE FRÜHLING 2021 Johann ließ sich zum Michel fahren, denn für seine Idee brauchte er den Turm des Michel, den und keinen ande- ren! Dort angekommen, kletterte er hinauf bis ganz nach oben, hier war er fast im Himmel, und von da konnte er im Innern des Turmes bis ganz nach unten sehen. So war der Turm des Michel damals nämlich noch gebaut. Auch runterspucken konnte man von da, das war aber nicht erlaubt. Oben angekommen, packte Johann seinen Koffer aus, nur die Unterhosen ließ er drin. Zuerst nahm er das Holzgerät, das er gebaut hatte. Das befestigte er am Geländer. Da hinein legte er einige Kugeln aus Blei. Ganz genau musste er das machen. Auf jede Kugel hatte er einen Punkt ge- ritzt. Jede Kugel legte er genau mit dem Punkt nach unten in das Gerät. Er sah hinunter, da stand der Küster. Dem hatte Johann von seiner Idee erzählt. Jetzt bewegte Johann einen Hebel, und schon machte es „sst“ und dann „plumps“, und die erste Kugel fiel 76 Meter in die Tiefe. Wunderbar war das. Die Kugel fiel von ganz oben bis ganz nach unten, mehrere Sekunden lang, und kein Windhauch veränderte ihren Flug. Deshalb hatte Jo- hann den Michel gewählt, weil es sonst keinen Turm gab, in dessen Innern man etwas von ganz oben bis ganz nach unten werfen konnte! Und dann machte es noch mal „ssst“ und noch mal „plumps“. Dann lief Johann nach unten, sammelte die Kugeln auf und sah sie an. Dann kletterte er wieder nach oben. Rauf, sst, plumps, runter, wieder rauf, sst, plumps und wieder runter. Und der Küster stand die ganze Zeit unten und passte auf, dass keiner die Kugeln an den Kopf bekam. Das ging so mehrere Male. Bald darauf fuhr Johann wieder nach Hause. Als er durch die Straßen seiner Stadt ging, stand plötzlich der Junge vor ihm. Er lachte. Johann aber lachte auch. Er zeigte dem Jungen eine der Kugeln und sagte: „Diese Kugel fiel vom Turm des Hamburger Michel, 76 Meter von ganz oben nach ganz unten, mehrere Sekunden lang.“ „Genau hier“, er zeigte auf die geritzte Markierung, „hätte die Kugel auf dem Boden aufschlagen müssen – wenn sich die Erde nicht drehen würde! Aber das tat sie nicht. Sie knallte stattdessen …“ Er zeigte auf eine Delle ein ganzes Stück daneben: „Hierhin! Während die Kugel fiel, drehte sich die Erde nämlich weiter. Jetzt habe ich es selbst gesehen. Das ist Beweis genug!“ Dann drehte sich Johann um. Der Junge sah ihm sprachlos hinterher. Er hatte kein Wort verstanden, das Lachen aber war ihm endlich ver- gangen. Noch eine Weile konnte er das fröhliche Lied hören, das Jo- hann beim Weggehen vor sich hin summte. R P , t a v i r p : o t o F